THOMAS HÜBL

Wir leben in einer Welt der Unsicherheit

Unsicherheit ist in der Regel ein enormer Auslöser von Angst. Die Situation gibt uns die Chance, nicht zu versuchen, unsere Angst loszuwerden, sondern zu lernen, sie zu integrieren.

Angesichts all der tiefgreifenden Probleme, die jetzt in der Welt da sind, wie der Klimawandel, könnten wir meinen, dass das, was in mir selbst auftaucht, irgendwie ein Hindernis für mich ist, in der Welt wirksam zu sein. Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall.

Was in uns hochkommt, ist Teil des Entgiftungsmechanismus, Teil der Evolution. Die Welt entwickelt sich nicht nur außerhalb von mir, die Welt entwickelt sich auch in mir, die Welt entwickelt sich durch uns alle.

Und dasselbe gilt für die Natur. Wenn wir durch den Wald gehen, wo ist dann die Natur? Die Natur ist nicht um uns herum. Ich bin auch Natur. Ich bin auch Biosphäre. Dieses Gefühl des Getrenntseins, das wir manchmal erleben, bedeutet, dass das, was in mir geschieht, ausgeschlossen ist, und dass es die Welt da draußen gibt. Die Welt findet nicht um uns herum statt. Die Welt findet durch uns alle statt. Das ist sehr wichtig.

Was auch immer wir durchmachen, wir müssen es nicht wegpacken und versuchen, es nicht zu haben, sondern es ist genau das, was wir brauchen, um uns als Menschheit und als Leben weiterzuentwickeln.

Wir können nicht in der Ungewissheit des Nichtwissens leben. Loslassen, um neuen Boden zu finden – das ist ein ziemlich schwieriger Schritt. Er löst all unsere Ängste aus.

Wir brauchen mehr kollektive Unterstützung. Wir müssen uns gegenseitig durch die raue See dieser Zeit helfen. Und wir müssen heilen. Was auch immer in uns hochkommt, ist die unintegrierte Vergangenheit, die an unsere Tür klopft und sagt: Ich muss gesehen werden.

Die Länder brauchen eine kollektive Architektur der Heilung. Mit der Zeit würde dies unsere Gesundheitskosten enorm senken und das öffentliche Wohlbefinden steigern, wenn wir erkennen könnten, dass dies der unintegrierte Rückstand vieler massiver Traumatisierungen und vieler Dinge ist, die wir normalerweise zu verdrängen versuchen.

Und das würde uns zu einer Welt führen, in der die Wiedergutmachung und Aussöhnung zwischen verschiedenen Ländern tatsächlich zu einer Notwendigkeit wird, weil wir sehen würden, dass der Sand im Getriebe der Evolution die Vergangenheit ist, die wir nicht sehen wollen.

Haben wir das tief verstanden, würde uns das motivieren, unsere Macht zu nutzen, um all die Verfehlungen wiedergutzumachen, die wir uns gegenseitig zugefügt haben. Wir würden all das Trauma erkennen, das dies verursacht hat, so dass wir uns weiterentwickeln und unseren kollektiven Weg ändern können.

Dies ist unsere Verantwortung für die Zukunft. Das heißt: Die Verantwortung für die Zukunft besteht darin, die Wunden der Vergangenheit zu integrieren. Damit wir sie nicht mehr an unsere Kinder und deren Kinder weitergeben müssen. Es liegt in unserer Hand, diesen Wiederholungszwang zu stoppen.

Aber das ist nicht einfach. Wenn es uns gelingt, in Gemeinschaft zusammen zu kommen mit diesem Schmerz, und unsere Beziehungsfähigkeit so zu steigern, dass wir in diesem Raum zusammen sein können, dann werden die nächsten Generationen glücklicher sein.

„Neue Perspektiven für kollektive Heilung, soziale Gerechtigkeit und Wohlbefinden“ ist der Titel einer Webinarreihe, die vom UNESCO-Projekt Routes of Enslaved Peoples, dem Global Humanity for Peace Institute und der University of Wales Trinity St. David veranstaltet wird. Im Rahmen dieser Reihe trafen Dr. Joy DeGruy und ich uns zu einem anregenden Gespräch. Joy ist eine international anerkannte Forscherin, Pädagogin und Autorin des Buches „Post Traumatic Slave Syndrome“. Dieser Text ist ein Auszug aus dem Gespräch. Thomas Hübl

 

Sieh dir hier das ganze Gespräch an (auf Englisch):

 

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