Im Oktober 2022 hielt Thomas Hübl einen Workshop bei der Jahresversammlung des Next Practice Institute in Boston, Massachusetts, USA, über die Prinzipien von Heilung, Grounding, generationenübergreifende Trauma-Arbeit und persönliche Entwicklung. Die Veranstaltung wurde über Facebook öffentlich livegestreamt.
Hier sind einige Ausschnitte daraus in deutscher Übersetzung. Weiter unten sind die kompletten Aufzeichnungen als Videos eingebettet (auf Englisch)
Was ist ein Trauma?
Ein Trauma kann ein Bindungs-Trauma sein, es kann durch einen Unfall verursacht werden, oder durch ein sehr schwierig zu verarbeitendes Erlebnis.
Allein der Begriff kann schon Gefühle von Überwältigung auslösen. Denn das ist genau das, was es ist. Ein Trauma ist eine überwältigende Situation, die ich nicht mit den Kräften und den Ressourcen verarbeiten kann, die mir in diesem Moment zur Verfügung stehen. Der “Computer” hängt sich auf. Im Inneren findet Fragmentierung statt. Der Betroffene steht unter hohem Stress. Diese Mechanismen stellt unser menschliches Nervensystem zur Verfügung. Es ist über Millionen von Jahren gewachsen. Wir sitzen in einem Bio-Computer der Evolution. Alle Generationen vor uns haben diesen Biocomputer verfeinert, damit wir diese Erfahrung machen können.
Drei Symptome der Traumareaktion
Wenn wir uns ein Trauma anschauen, sehen wir, dass es starke, überwältigende Auswirkungen hat, die unsere innere Fähigkeit, zu erfahren, fragmentiert. Wir sind nicht die ersten sind, die verletzt wurden. Dies gab es auch schon bei unseren Eltern und unseren Großeltern. Unser Nervensystem hat im Laufe der Jahrmillionen gelernt, wie es mit solchen überwältigenden Situationen umgehen kann. Wir nennen das die Traumareaktion.
Wenn wir uns ein Trauma anschauen, sehen wir drei verschiedene Symptome: Das eine ist Reaktivität. Die Leute flippen in Reaktion aufeinander aus. Ich bin übertrieben reaktiv, bin getriggert, und agiere viel zu stark, als es der Situation angemessen wäre.
Eine weitere Reaktion ist Gefühllosigkeit und Abwesenheit. Ich bin distanziert, es fühlt sich an, als ob die Situation nichts mit mir zu tun hat. Es ist dein Ding, nicht meines. Oder: Ich fühle meine Gefühle nicht, und ich fühle meinen Körper nicht, ich fühle dich nicht. Denn wenn ich abwesend bin, lebt mein Gegenüber in mir wie in einem schwarzen Loch. Ich kann mein Gegenüber nicht spüren und deshalb muss ich mich anstrengen, um meine Mitmenschen irgendwie zu erfassen.
Und die dritte Gruppe von Symptomen ist so, als würde man einen Stein nehmen und ihn gegen ein Fenster werfen. Was passiert? Es entstehen Risse und Sprünge im Glas. Viele von uns tragen Sprünge in der Scheibe mit sich, durch die wir unsere Mitmenschen und unsere Umwelt wahrnehmen. Wenn wir unsere intimen Partner erleben, unsere Frauen, unsere Ehemänner und unsere Kinder, und wir haben immer wieder dieselben Streitereien, … wenn du dich dabei ertappst, zum zehnten Mal in demselben Konflikt, in demselben Streit zu stecken, dann ist da etwas festgefahren. Wir sind gefangen im Wiederholungszwang des Traumas. Schon Freud sagte, dass es einen Wiederholungszwang gibt, weil unverdaute Information im System zirkuliert und immer wieder die gleichen Muster hervorbringt.
Notwendige Updates für mein Leben
Wenn wir die menschliche Entwicklung betrachten, schauen wir immer auf zwei Dinge: Was ist das Gewicht des Problems, der Schwierigkeit, und was sind die Ressourcen der Person, um mit der Schwierigkeit umzugehen.
Wenn ein Paar immer wieder die gleiche Erfahrung macht, ist es ganz klar, dass es nicht genügend Raum für Entwicklung hat. Denn Entwicklung ist, auch wenn etwas schwierig ist, dass es weitergeht, auch wenn wir kleine Schritte machen. Aber wir machen Schritte. Das heißt, wir befinden uns in der Aktualisierung des Lebens. Aktualisierung bedeutet Wachstum, Aktualisierung bedeutet Glücklichsein. Ein Faktor für Glück ist, dass ich das Gefühl habe, dass ich mein Leben updaten kann. Ich update meine Arbeit, ich update meine Beziehungen, ich wachse, ich werde. Das ist ein wichtiger Faktor für Glücklichsein. Und ich aktualisiere meine Bestimmung.
Kollektives Trauma entdecken
Das kollektive Trauma enthält eine Menge externalisierter Informationen, die noch im kollektiven Unbewussten stecken. Zuerst wird mir bewusst, dass das kollektive Trauma überhaupt existiert. Es hat einen massiven systemischen Einfluss, der oft unbewusst ist. Und dann werde ich neugierig, was diese Auswirkungen sind. Wie viele Symptome in unserer Gesellschaft, die ich sehe, gehen darauf zurück? Und dann bin ich daran interessiert, mich um meinen eigenen Anteil zu kümmern. Dabei spielt es keine Rolle, ob ich in den USA, in Wien, in Deutschland, in Israel, in Vietnam geboren bin. Ich beginne zu schauen, was mein eigener Anteil ist.
Ich muss zuerst an meinem eigenen Teil arbeiten, nicht an den Dingen da draußen. Denn das ist das Problem: Wenn es da draußen ist, ist es von mir getrennt. Ich arbeite an meinem eigenen Anteil, und dann sehe ich, dass ich tatsächlich das Feld wahrnehme.
Zum Beispiel jetzt hier, die Intelligenz von uns allen, die sich des Raumes bewusst sind … wenn jeder hier im Raum sich der Gruppe bewusst wird, ist sich die Gruppe ihres eigenen Prozesses bewusst. Je mehr Fragmentierung im Raum ist, desto geringer ist die Kohärenz, desto geringer ist das Bewusstsein.
Der systemische Aspekt
Wir machen unseren individuellen Anteil an der Heilungsarbeit. Dabei geht es nicht nur um meine Kindheit, es geht darüber hinaus. Wir erkennen, dass die Eltern, die Bindungswunden bei ihren Kindern erzeugen, auch traumatisiert sind. Und in Anbetracht der Tatsache, dass sie traumatisiert sind, waren wahrscheinlich auch ihre Eltern traumatisiert. Es gibt also einen systemischen Effekt. Es handelt sich nicht um eine isolierte Sache. Und je mehr wir uns dessen bewusst werden, desto eher sehen wir, dass es sich um einen Datenfluss handelt. Unsere Vorfahren sind ein Datenfluss, der in unserem Körper, in unseren Emotionen, in unserem Verstand, und in unsere Gesellschaft fließt oder nicht fließt.
Wir nennen das IAC – Fluidität. Ich mache meine individuelle (I), meine angestammte (A) und meine kollektive (C) Heilungs-Arbeit, denn das ist ein gemeinsames System. Ich verflüssige das Gefrorene in dem, was in mir selbst, in meinen Vorfahren, in der Kultur, und in meinem Teil der Kultur erscheint. Und dann kann ich viel effektiver mit dem kollektiven Trauma in der Gesellschaft interagieren. Das ist also die Anerkennung des Traumas, das ich in mir trage.
Ethische Übertretungen heilen
Der zweite Schritt ist, dass ich ernsthaft daran interessiert bin, die geschehene ethische Übertretung von Grenzen wiederherzustellen. Wir können das nicht auslassen. Wenn Menschen verletzt wurden, haben sich die Netzwerke des Lebens heruntergefahren. Der Selbstheilungsmechanismus hat sich abgeschaltet. Die Natur ist stillgelegt. Um das wieder zu öffnen, müssen wir Beziehungen wiederherstellen. Wenn wir ein sehr privilegiertes Leben führen, sollten wir uns die Frage stellen, was wir tun können, um die Vergangenheit zu heilen und wie wir uns um all die Teile unserer Gesellschaft kümmern können, die nicht so privilegiert sind.
Und wir müssen uns nicht um alles kümmern, aber wir sollten für unseren Anteil daran Verantwortung übernehmen, und uns dafür interessieren. Und das geht nur durch Handeln. Es geht nicht nur um mich. Und wenn es mir dann gut geht, dann führe ich mein Leben weiter wie bisher, nein. Diese Arbeit verändert mein Leben. Sie muss mein Leben verändern. Und wenn ich das nicht will, ist das ein Zeichen, dass es mir Angst macht. Denn individuelle, generationenübergreifende und kollektive Traumaarbeit verändert die Struktur unserer Gesellschaft. Sie wird die Dinge, wie sie jetzt sind, verändern. Und ich denke, das ist unsere Verantwortung. Denn sich um die ethischen Übertretungen zu kümmern, bedeutet, dass wir die Menschenrechte in der Vergangenheit wiederherstellen, um sie jetzt respektieren zu können. Wenn wir nicht in der Lage sind, die Menschenrechte in der Vergangenheit wiederherzustellen, und die ethischen Übertretungen auszugleichen, können wir es auch jetzt, in der Gegenwart, nicht tun.
Hier ist die Aufzeichnung des kompletten Workshops im Next Practice Institute am 26. Oktober 2022, Morgen-Sitzung (auf Englisch)
https://www.facebook.com/MobiusUS/videos/603583438224124
Hier ist die Fortsetzung des Workshops am Nachmittag:
