Krisen, Interdependenz und kollektive Heilung

Von Thomas Hübl

Hinweis: Ich schreibe diesen Text im Dezember 2025, um meine Perspektiven auf die anhaltenden Krisen im Nahen Osten zu teilen – und darauf, wie wir in dieser Zeit mit kollektivem Trauma arbeiten können. Zugleich hoffe ich, dass dieser Artikel eine vertiefte Reflexion darüber anregt, wie jede und jeder von uns einen eigenen, einzigartigen Beitrag zur Heilung von individuellem, ahnenbezogenem und kollektivem Trauma leisten kann.

Reflexionen aus einer Region in der Krise

Nachdem ich viele Jahre überwiegend in Tel Aviv gelebt habe – als Nicht-Staatsbürger – und nun seit über einem Jahrzehnt in Deutschland, habe ich eine Zeit tiefgreifender Umbrüche und intensiver Verdichtung erlebt. Ich wurde aus vielen Gründen in diese Region gezogen, vor allem aber wegen der dichten spirituellen Geschichte dieses Landes als Wiege zentraler Weltreligionen und Weisheitstraditionen.

Als Europäer mit christlichem Hintergrund bringe ich notwendigerweise eine Außenperspektive mit. Meine Intention war dabei stets, – so gut es mir möglich ist – zu Heilungsprozessen in einer Region beizutragen, die von tiefen, historischen kulturellen Wunden geprägt ist. Gleichzeitig war es mir immer ein zentrales Anliegen, keine äußeren Annahmen oder fertigen Methoden zu importieren, sondern zuzuhören, Dialogräume zu öffnen und Brücken zu bauen – als Grundlage für echte, nachhaltige Heilung.

Hier zu leben bedeutet, die Spannung im Alltag unmittelbar zu spüren. Die Gewalt, die immer wieder aufbricht, ist keine abstrakte Idee, sondern gelebte Realität. Ich habe die unmittelbaren Folgen des Hamas-Angriffs auf Israel am 7. Oktober 2023 miterlebt – die Erschütterung der Betroffenen, ihrer Familien und Gemeinschaften. Ebenso habe ich persönlich die Auswirkungen jahrelanger Raketenangriffe aus verschiedenen Richtungen erfahren. Diese Ereignisse treffen auf eine israelische Gesellschaft, die ohnehin in einem dauerhaften Gefühl von Bedrohung und Verwundbarkeit lebt – und auf jüdische Gemeinschaften weltweit, die einen drastischen Anstieg antisemitischer Gewalt und Hassrede erleben.

Gleichzeitig bin ich zutiefst erschüttert über die verheerende Gewalt gegen ungeschützte Zivilistinnen und Zivilisten in Gaza, die diesen militärischen Angriffen schutzlos ausgeliefert sind. Zum Zeitpunkt des Schreibens berichten das Gesundheitsministerium in Gaza sowie unabhängige Analysten von über 70.000 getöteten Palästinenserinnen und Palästinensern und mehr als 100.000 Verletzten. Große Teile der Bevölkerung wurden vertrieben, leiden unter massivem Mangel an Nahrung, medizinischer Versorgung und sicherem Wohnraum. Viele Menschen haben mehrere Familienangehörige verloren und miterlebt, wie ihre Häuser und Gemeinschaften zerstört wurden – in einem Kontext aktueller wie historischer Machtungleichgewichte.

Die Bilder und Berichte aus Gaza sind erschütternd. Weltweit haben Menschen und Organisationen die Handlungen der israelischen Regierung verurteilt und ein Ende der Gewalt gefordert. Auch innerhalb Israels sind viele Menschen in den Protest gegangen – sie fordern ein Ende der Gewalt sowohl in Gaza als auch im Westjordanland. Auch ich rufe zu einem Ende der Gewalt auf: zu einem dauerhaften Waffenstillstand und zu diplomatischen Lösungen, die Selbstbestimmung, Sicherheit, Würde und Menschenrechte für alle unterstützen.

In Zeiten akuter Krise braucht jede betroffene Person Schutz, Fürsorge und Unterstützung. Kollektive Traumata können nicht auf gesellschaftlicher Ebene heilen, solange Gewalt anhält und Menschen weiterhin leiden.

Mein Fokus in dieser Zeit lag daher sowohl auf akuter Traumalinderung als auch auf der Unterstützung und Ausbildung jener Menschen, die direkt vor Ort arbeiten – medizinisches Personal, Therapeutinnen und Therapeuten, Ärztinnen und Ärzte sowie Ersthelfer. Diese Arbeit habe ich persönlich geleistet und zugleich über unsere Organisationen, unter anderem über das Pocket Project, das seit Jahren Trauma-Hilfsprojekte für palästinensische und jüdische Gemeinschaften umsetzt. Diese aktuellen Initiativen bauen auf einer langjährigen Arbeit in der Region auf. Parallel dazu suche ich Wege, mit Diplomatinnen, Mediatoren und politischen Akteurinnen und Akteuren – innerhalb und außerhalb staatlicher Strukturen – zusammenzuarbeiten, um trauma-informierte Konfliktlösung und größere Architekturen kollektiver Heilung mitzugestalten.

Kollektives Trauma heilen

Der Begriff kollektives Trauma beschreibt die Auswirkungen großflächiger Naturkatastrophen oder menschengemachter Gewalt, die ganze Gemeinschaften betreffen. Die Folgen wirken oft weit über das eigentliche Ereignis hinaus und werden über Generationen weitergetragen. Sie sind zudem systemisch: Wir werden in Gesellschaften geboren, in denen sich nicht integrierte kollektive Traumata als zwischenmenschliche, soziale und politische Dysfunktionen zeigen. Wenn ihre tieferen Ursachen unsichtbar bleiben, erleben wir sie schlicht als „normal“ – als das Wasser, in dem wir schwimmen.

Die zentrale Frage lautet daher: Wie können Gruppen, Gemeinschaften und ganze Gesellschaften ihre kollektiven Wunden tatsächlich heilen – so, dass tiefgreifende und nachhaltige Transformation möglich wird?

Zunächst ist es entscheidend zu unterscheiden, wann welche Form kollektiver Traumaarbeit möglich ist. Während akuter Gewalt geht es darum, die Bedingungen vor Ort zu verändern, die Gewalt zu beenden und Leiden zu lindern – durch Schutz, humanitäre Hilfe und Unterstützung. Erst in Phasen relativer Stabilität, wenn grundlegende existenzielle Sicherheit wiederhergestellt ist, kann tiefere Traumaarbeit stattfinden: die Integration individueller und kollektiver PTSD-Symptome, als Grundlage für Prozesse wie restorative Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Versöhnung.

Darüber hinaus gibt es eine weitere Ebene kollektiver Traumaarbeit: wenn Gruppen bewusst zusammenkommen, um historische und ahnenbezogene Traumata auftauchen zu lassen – damit sie gesehen, gehalten und in einem sicheren Raum verarbeitet werden können. Diese Arbeit erfordert hochqualifizierte Prozessbegleitung. Ihre Wirkung reicht weit über die unmittelbar Beteiligten hinaus, da wir alle in ein lebendiges Feld von Verbundenheit eingebettet sind, das sich über Zeit und Generationen hinweg erstreckt. Diese Arbeit hat eine zutiefst spirituelle Dimension, weil sie uns lehrt, uns auf gegenwärtige wie vergangene Ereignisse einzustimmen. Gleichzeitig handelt es sich um ein noch junges Praxisfeld, das sich weiter entfaltet.

Wenn wir die Wunden kollektiven Traumas in Zeiten relativen Friedens nicht bewusst bearbeiten, werden wir die gleichen Konfliktmuster immer wieder neu erschaffen.

Unser Platz in einer globalen Heilungsbewegung

Es ist unsere Aufgabe – und unsere Chance –, eine globale Heilungsbewegung zu entwickeln, die den Herausforderungen unserer Zeit gewachsen ist. Jede und jeder von uns ist eingeladen, den eigenen, einzigartigen Beitrag zu finden.

Seit über 25 Jahren liegt mein Fokus darauf, Einzelpersonen, Praktizierende und Führungskräfte zu begleiten, die sich der Heilung und Bewusstseinsentwicklung verschrieben haben und mit Trauma in unterschiedlichsten Kontexten arbeiten. In unseren Programmen und Retreats erforschen und verfeinern wir kontinuierlich Wege der individuellen, ahnenbezogenen und kollektiven Traumaintegration. Wir treten in Dialog mit Expertinnen und Experten – etwa in unseren Collective Trauma Summits – und teilen Erkenntnisse, die in therapeutischen, organisatorischen, medizinischen, aktivistischen oder pädagogischen Kontexten Anwendung finden können.

Als Gemeinschaft haben wir ein Feld gegenseitiger Unterstützung aufgebaut, das diese Arbeit trägt und vertieft – und das in einer Welt wachsender Herausforderungen immer notwendiger wird.

Während diese Bewegung wächst, ist es wichtig, wachsam gegenüber Polarisierung zu bleiben – auch innerhalb unserer eigenen Heilungs- und Friedensgemeinschaften. Unterschiedliche kulturelle Hintergründe, Methoden und Perspektiven gehören dazu. Unsere Stärke liegt darin, die gemeinsame Fürsorge zu erkennen, statt uns an Unterschieden zu spalten – gerade in einer Zeit, in der Spaltung gezielt vertieft und instrumentalisiert wird.

Jede und jeder von uns ist aufgerufen, den eigenen Platz zu finden: humanitäre Hilfe zu leisten, für Menschenrechte einzustehen, gegen staatliche Gewalt zu protestieren oder jene zu unterstützen, die in Konfliktzonen arbeiten. Die Dringlichkeit dieser Zeit fordert uns auf, zu handeln – und zugleich unsere Fähigkeiten zu verfeinern, zu reifen und voneinander zu lernen.

Ich werde im kommenden Jahr weitere Artikel veröffentlichen, um meine Perspektiven darauf zu teilen, wie wir gemeinsam neue Wege der Heilung in einer Zeit fortdauernder Krisen und beschleunigten Wandels entwickeln können.

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