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Was ist Global Social Witnessing?

Der Begriff „Global Social Witnessing“ wurde zuerst auf dem Celebrate Life Festival 2017 eingeführt. Dies entstand vor dem Hintergrund der zunehmenden Kluft zwischen dem, was vom Potential des Menschen und der Menschheit her möglich ist, und dem, was sich davon verwirklicht. Betrachtet man die Konflikte in der Welt und die destruktiven Entwicklungen, bekommt man den Eindruck, dass die Menschheit nur sehr langsam aus der Vergangenheit lernt. Warum das so ist, ist seit langem eine Frage die mir am Herzen liegt, und die in unsere Arbeit einfließt.

Thomas Hübl CLF 2017Unsere Erkenntnis ist, dass kollektive Traumata den meisten Konflikten zugrunde liegen – meist unerkannt und oft unbewußt. Nur wenn man das miteinbezieht, ist eine adäquate Heilung und Friedensstiftung möglich. Voraussetzung dafür ist zuallererst die Fähigkeit, ein präzises und umfassendes Bild davon zu erlangen, was überhaupt geschieht. Diesen Erkenntnisprozess nennen wir Global Social Witnessing. Es ist die Fähigkeit, den kulturellen Prozess auch fühlen zu können, und sich mit ihm zu identifizieren. Es ist das Bewusstsein, dass sich der soziale Körper durch uns entwickelt. Das umschließt auch eine Vision dessen, was sich entwickeln kann, und Methoden, die den Weg dahin fördern.

Die Fähigkeit eines Menschen oder eines Systems, Bewusstheit über den eigenen, gegenwärtigen Lebensprozess zu haben, nennen wir bewusste Erfahrung. Reflexionsfähigkeit, selbstkritische Überprüfung von Motivationen und Handlungen, Wandlungsfähigkeit und Humor sind nur ein paar Funktionen davon. Wenn sich ein lebendiges System (ein Individuum, eine Organisation, eine Kultur) des eigenen Prozesses bewusst wird, ist eine inkludierende und integrative, oder integrale Lebensweise der Ausdruck davon.

Global Social Witnessing beschäftigt sich mit der Bewusstwerdung des kollektiven Subjekts über den eigenen Prozess. Diese Bewusstwerdung fängt damit an, dass zuerst die Informationen der Prozesse des Systems in sich selbst abgebildet werden.

Die individuelle Ebene

Ein Mensch, der das Innenleben eines anderen Menschen in sich abbilden kann, bildet die Fähigkeit des Mitgefühls aus.

Global Social Witnessing DialogueMitgefühl ist kein rein kognitiver Prozess, sondern eine Komposition aus der physischen, der emotionalen und der mentalen Abbildungsfähigkeit. Die innere Abbildung der Erfahrung eines anderen Menschen in mir schafft echte Anteilnahme, und dadurch einen Handlungsradius, der die Voraussetzung für wirklich heilsames und potentialförderndes Wirken ist. Das ist die Grundlage von Ver-Antwortung (engl. Response – ability)

Die kollektive Ebene

Crowd of PeopleDas gleiche gilt für den kollektiven Kontext. Wenn wir die Vorgänge und Prozesse, die in der Gesellschaft geschehen, in uns abbilden können, werden wir zu einem erwachsenen und integrierten Bürger einer Nation oder Kultur. Das bedeutet, dass erst wenn ich eine physische, emotionale und mentale Abbildung von Ereignissen in mir erzeugen kann, erst dann kann ich mich wirklich darauf beziehen. Diese Beziehung bewirkt wiederum, dass ich zu einer angemessenen, nicht reaktiven, sondern kreativen Handlung kommen kann. Je mehr ich von den Ereignissen und Prozessen der Kultur, in der ich lebe, ausblende, oder mich davon dissoziieren muss, desto weniger kann ich zu einer adäquaten Antwort und Handlung darauf kommen.

Die Auswirkung von Trauma

Dieses sehen wir immer wieder dann, wenn Trauma, was eine Fragmentierung im Nervensystem ist, zu fragmentierten und fragmentierenden Handlungen führt. Wenn zum Beispiel ein Terroranschlag passiert, fühlen sich viele Menschen davon überfordert und wenden sich innerlich ab.

GSW SeparationDadurch kann es zu reaktiven Handlungen kommen. Diese führen meist zu weiterer Fragmentierung und Spannung im System, die sich zu politischen Spannungen bis auf die internationale Ebene auswachsen können. Reaktionen auf traumatisierende oder polarisierende Handlungen werden in der Regel durch Reaktionen beantwortet, die auf derselben Ebene ihren Ursprung haben. Es bildet sich ein Circulus vituosus aus, der sich im Kreis dreht. Handlungen basierend auf Traumareaktivität rekreieren wieder neue Traumatisierung.

Es braucht zuerst ein neues Verständnis von der zugrundeliegenden Funktion der Beziehung, von der Fähigkeit, das Innen und Außen miteinander zu verbinden, und ineinander abbilden zu können. Vortraumatisierung verhindert oder erschwert das. Deswegen können Folgetraumata oft nicht in der Kultur, in der Gesellschaft und in den Individuen abgebildet werden, ohne dass die Beteiligten dabei dissoziieren.

Zur Frage der Schuld

GSW JusticeAuf den ersten Blick sieht es so aus, als seien die Schuldigen an einem Geschehen wie einem Terrorakt oder an einem Mißbrauchsskandal diejenigen, die nach den Gesetzen strafbare Handlungen begangen haben, und denen der Prozess gemacht wird. Das ist zwar richtig, aber nur ein Teil der Wahrheit. Bei genauerem Hinsehen stellt man fest, dass es ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ist. Denn je weniger wir die Ereignisse und Nachrichten, die wir hören und lesen, in uns abbilden können, desto gefühlloser ist der soziale Körper und kann den eigenen Prozess als System nicht in sich abbilden. Damit hat das System (z.B. die Gesellschaft) ihre eigene Beziehungsfähigkeit eingebüßt und verliert an Regenerationskraft, an Immunsstärke und an Mitgefühl. Das Zeugenbewusstsein der Kultur (die Kraft, den eigenen Lebensprozess zu bezeugen) bricht hier oft zusammen, und der Prozess ist sich seiner selbst nicht mehr bewusst. Das hat zur Folge, dass unbewusste Handlungen den Prozess bestimmen, oder zumindest tief beeinflussen.

Unsere Grenzen kennenlernen

Die Praxis des Global Social Witnessing ist eine tiefe Bewusstseinspraxis und Reifung, die sich der Integration der kollektiven Traumatisierung widmet, und der daraus entstehenden Getrenntheit, die viele Menschen erleben.

Global Social WitnessingWir können uns durch eine bewusste individuelle Praxis und eine Wir-Praxis wieder an die nicht gefühlten und erlebten Anteile in der Kulturerfahrung heranwagen. Wir können lernen, wo unsere persönlichen und kollektiven Grenzen liegen, herausfordernde Ereignisse wirklich erleben zu können, und dadurch ein wirklicher Zeitzeuge zu sein. Das ist ein Mensch, der das, was er in seiner Umgebung erfährt, emotional, kognitiv und bezogen erleben kann. Alle diese Elemente sind die Bausteine von Präsenz oder Gegenwärtigkeit. Es geht zunächst nicht darum, dass wir das alle gleich können. Es geht darum, zuerst einmal herauszufinden, wo die Grenzen unserer Erfahrungsfähigkeit liegen. Erst dann können wir beginnen, sie zu erweitern.

Es beginnt bei uns selbst

Global Social Witnessing beginnt mit jedem Einzelnen. Es ist die Fähigkeit, wie wir uns auf Prozesse, Vorfälle und Situationen, die in unserer Kultur passieren, beziehen können. Doch um mich beziehen zu können, muss ich die Fähigkeit haben, mein Außen adäquat in meinem Inneren abzubilden. Damit entsteht Resonanz, und die basiert auf Resonanzfähigkeit, was eine natürliche Funktion des Nervensystems ist, wenn es offen und gereift ist.

Verbundenheit und Getrennt-Sein

Traumatisierung verringert Resonanzfähigkeit, und deswegen auch unsere Kapazität, das Außen im Innen abzubilden, und aus dieser inneren Abbildung auf das Außen zu antworten. Dies ist die Grundlage von Verbundenheit, und dafür, dass wir uns der Tatsache einer sich entwickelnden, verbundenen Welt auch fühlbar bewusst sind.

GSW World MapFür viele Menschen ist zumindest zu gewissen Zeiten die subjektive Erfahrung eine Getrennte. Das Subjekt erlebt sich in einem getrennten oder isolierten Gefühl. In dieser Trennung kann das Individuum den Kulturprozess nur bedingt oder kaum in sich abbilden.

Die Fähigkeit des Global Social Witnessing wird dadurch reduziert. Der Innenraum (die innere Erfahrungswelt) hat nur einen Bruchteil des Prozesses, der wirklich stattfindet, in sich abgebildet. Die Welt, die erfahren und wahrgenommen wird, ist viel reduzierter als das, was tatsächlich stattfindet. Massive Dissoziation ist die Grundlage der häufig zu beobachtenden Indifferenz, und somit fehlt oft die Grundlage für einen Handlungsimpuls, der aus der Verbundenheit entsteht. Was entsteht sind reaktive Muster, die meist aus der Konditionierung der Vergangenheit stammen, und die die Fragmentierung, die schon besteht, weiterführen. Immer mehr desselben kreiert sich.

Durch eine Bewusstseinpraxis wie Global Social Witnessing kann dieser Teufelskreis durchbrochen werden.

Ein praktisches Beispiel eines „Global Witnessing Prozesses – der Ost-West-Dialog auf dem Celebrate Life Festival 2019

Global Social Witnessing_Lab an der Universität Witten Herdecke vom 30. März bis 2. April 2020 (mit Thomas Hübl und vielen weiteren Referenten, auf English) – Mehr dazu hier

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