Die Spaltung zwischen dem ehemaligen Osten und dem Westen Deutschlands ist nach wie vor lebendig – trotz dreier Jahrzehnte deutsche Wiedervereinigung auf der formalen Ebene. Es existieren reale und meßbare Unterschiede auf wirtschaftlichem, sozialem und politischem Gebiet. Und es gibt eine gefühlte Spaltung, die sich in Vorurteilen und Einstellungen zueinander ausdrückt, idividuell und gesamtgesellschaftlich, in der Öffentlichkeit, in den Medien. Dies drückt sich exemplarisch aus in der Titulierung der Westdeutschen als „Besser-Wessies“, und in der Bezeichnung der östlichen Bundesländer als „Dunkel-Deutschland“. Echtes Zusammenwachsen hat nur teilweise stattgefunden. Dies hat Auswirkungen auf die Gegenwart.
Das Anliegen des Ost-West-Dialogs auf dem Celebrate Life Festival 2019 war, eine größere Bewusstheit über diese weitgehend unbewußte Dynamik in der Gesamtgruppe des Festivals zu erlangen, und eine Begegnung auf tieferer Ebene zu ermöglichen. Denn die „Abbildungen“ im Bewusstseins-Innenraum der Gesellschaft im Westen und die in der Gesellschaft im Osten darüber, was im Prozess der Wiedervereinigung Deutschland und danach wirklich geschehen ist, und was heute die Lebensrealität ist, stimmen nicht überein. Es sind unterschiedliche Geschichten.
Um diese Geschichten in einen Dialog treten zu lassen, wurde das Setting einer System-Aufstellung gewählt. Die Großgruppe teilte sich auf in die, die aus dem Osten stammen, und die, die aus dem Westen stammen. Jeweils 20 Menschen aus jeder Gruppe, die den Impuls spürten, Sprecher für ihre Gruppe zu sein, saßen sich frontal gegenüber, mit etwas Raum dazwischen. Hinter der Riege der der 20 Sprecher sassen alle anderen aus dem jeweiligen Teil Deutschlands. In dem Zwischenraum zwischen den beiden Gruppen wurde im Verlauf der Sitzung eine symbolische Mauer aus Ziegelsteinen ausgelegt, die die Teilung Deutschlands und den Mauerbau symbolisierten.
Die Stellvertreter beider Seiten begannen in kurzen persönlichen Statements auszudrücken, was in ihnen vorging, was gesagt werden wollte.
Dies waren einige der Punkte, die angesprochen wurden:
- Mit der Bürgerbewegung im Osten war bei vielen Menschen auch die Hoffnung auf etwas ganz neues, auf ein neues politisches System verbunden, das weder der Kapitalismus der BRD war, noch der Sozialismus der DDR
- Es ist tiefe Enttäuschung da über das System des Westens, das die Freiheit bringen sollte, aber viele „Versprechen“ nicht eingehalten hat
- Die „Wiedervereinigung“ lief auf eine Art und Weise, die eher eine Übernahme des Ostens durch das System des Westens war
- Von einem Mann, der mit einer Maschinenpistole an der deutsch-deutschen Grenze stand, wurde Wut geäußert, dass wir als Menschen von den Systemen so gegeneinander als Feinde aufgestellt werden
- In den Vorurteilen (und auch im Selbstbild) wird den Menschen im Osten eine Verlierermentalität zugeschrieben, den Menschen im Westen eine Gewinner-Mentalität
- Trauer wurde ausgedrückt, über den Verlust von vielen guten gemeinschafltlichen Errungenschaften im Osten
- Der symbolische Mauerbau wurde von einigen als Erleichterung erlebt, als Schutz vor der Überflutung aus dem Westen, als Schutzraum für die Suche nach einer eigenen Utopie
- Das Mißtrauen ist bei den Menschen aus dem Osten tief eingegraben, ob man frei sprechen kann; die Angst vor „Staatssicherheit“ und Abgehört-Werden ist noch lebendig
Vieles war überraschend für die jeweils andere Seite. Unbewußte Dynamiken kamen in den Fokus und traten ein in den Bewußtseinraum der Gesamtgruppe des Festivals. Traumatisierungen erhielten eine Stimme. Der Prozess begann vorsichtig und bewegte sich dann spiralförming immer tiefer und verdichtete und intensivierte sich spürbar. Das war sehr berührend, intensiv und hoffnungsvoll. Es eröffnete sich die Chance für einen gemeinsamen Lernprozess, der Spaltung und Vorurteile überwindet und Heilung möglich macht. Ein essentieller Dialog hatte begonnen, und wurde wie eine Art Neubeginn erlebt.
Ein solcher Dialog ist die Voraussetzung für echtes Zusammenwachsen und für die Integration aller Anteile. Hier auf dem Festival haben wir das exemplarisch durchgeführt mit einigen hundert Menschen.
Dieser Ost-West-Dialog ist das Beispiel eines Global Social Witnessing-Prozesses. Verletzungen konnten sich ausdrücken und bewusst werden. Das Bewusstsein der Gesamtgruppe darüber, was im Wiedervereinigungsgeschehen abgelaufen ist und wie sich das heute noch auswirkt, hat sich synchronisiert und erweitert. Durch solche und ähnliche systemische Dialogprozesse können verfeindete und getrennte Gruppen von Menschen in eine echte Begegnung gebracht werden. Die Heilung von Konflikten und traumatischer Vergangenheit in einer Gesellschaft, in Kulturen und zwischen Ländern kann auf diese Weise initiiert werden.