Dieser Artikel ist im „Climate Complexity Change“, unpsychology magazine, Issue 7, Spring 2021, veröffentlicht worden.
Titelbild: „Aftermath“ by Mary Thorp
Wir stehen an einem Scheideweg. Führenden Klimaexperten, Wissenschaftler und Angehörige einschlägiger Institutionen werten fast täglich die Daten über die Entwicklung unseres Klimas aus. Steigender Kohlenstoffgehalt in der Atmosphäre, in nie gekanntem Ausmaß. Verlust der Artenvielfalt. Extreme Wetterereignisse. Unerfüllte Verträge. Wir könnten unsere sozioökonomischen Strukturen und politischen Differenzen für unser Versagen verantwortlich machen, sinnvolle Veränderungen zu bewirken. Doch hinter unseren Argumenten und unserer Lähmung verbirgt sich eine unbewusste Landschaft, die um einen zentralen Dreh- und Angelpunkt aufgebaut ist: das Trauma.
Trauma ist die Ursache unserer Untätigkeit. Um dies zu verstehen, müssen wir zunächst untersuchen, wie sich Unausgewogenheit auf lebende Systeme auswirkt – in unserem Körper und auf der Erde selbst.
Essentielle Rückkopplungsschleifen
Um die Stabilität zu erhalten, erzeugt jedes lebende System Rückkopplungsschleifen. Dieser Informationsfluss ermöglicht es einem System, sich anzupassen und zu verändern. So kann es sich selbst steuern und sich bewegen, in Bezug auf das größere System, in das es eingebettet ist. In einem lebenden System erleichtern Rückkopplungsschleifen einen selbstregulierenden Prozess, der seine Funktion anpasst und es ins Gleichgewicht bringt, wenn dieses bedroht ist.
Ein Informationsfluss ist der Schlüssel zur Feedback-Schleife. Ohne Informationen gibt es keine Rückkopplung. Unser Körper benötigt ein gut entwickeltes Feedback-System, um mit den aktuellen Bedürfnissen des Lebens in Verbindung und im Einklang zu bleiben, sowohl im Inneren als auch im Äußeren.
Damit unsere Wahrnehmungsfähigkeiten gut funktioniert, ist jeder von uns auf einen kontinuierlichen Datenfluss angewiesen. Daten strömen ständig ein in unser Nervensystem, und von dort aus in andere regulatorische Prozesse wie unser endokrines System und in das Verdauungssystem. Gerade jetzt fließen riesige Datenmengen auch in deiner Wirbelsäule rauf und runter.
Die Architektur des Traumas
Seit fast zwanzig Jahren hat sich durch meine Arbeit mit kollektiven Traumata ein Verständnis davon entwickelt, wie Menschen die Welt wahrnehmen und was ihr Verhalten motiviert. Ich habe Dialogprozesse mit Gruppen von Menschen auf der ganzen Welt moderiert, um die Wunden zu heilen, die durch generationenübergreifende und historische Traumen entstanden sind.
Im Laufe der Jahre habe ich Hunderttausenden von Menschen zugehört und wurde Zeuge dessen, was auch wissenschaftliche Forschung entdeckt hat: die schwerwiegendste Störung im Informationsfluss innerhalb des menschlichen psycho-physischen Systems ist Trauma.
Ein Trauma wirkt per Definition wie ein Katalysator für das Auslösen einer Reihe von Prozessen, die im Nervensystem Verwüstung anrichten, wenn es sich in einem Zustand der Hyperregulation befindet. Erlebt ein Mensch eine überwältigende Situation, überflutet enormer Stress den Körper und das Nervensystem. Diese Überlastung kann wiederum zu Abkopplung, Dissoziation und Nicht-fühlen führen. Um zu überleben, spaltet das System des Menschen buchstäblich die physische, emotionale und mentale Erfahrung dieses Traumas ab.
Wir können dieser intelligente Funktion der Traumareaktion Respekt zollen, die das Leben im Laufe der Jahrtausende entwickelt hat. Genau dieser Prozess hat Generationen von Menschen geholfen, ungeheure Gräueltaten, Kriege, Naturkatastrophen, Hungersnöte und viele andere überwältigende Situationen zu überleben.
Unintegrierte Vergangenheit
Da diese Teile weiterhin vom Ganzen abgespalten werden, bleiben sie unintegriert. Dies führt dazu, dass wir uns davon abgekoppelt sind, vollständig in der Gegenwart zu sein. Wir leben weiter in der Vergangenheit, als ob der traumatische Moment nie beendet worden wäre. Wenn diese innere Fragmentierung – der hyperaktivierte, hoch gestresste Teil von uns – nicht re-integriert wird, werden viele Symptome und Nebenwirkungen auftreten. Wenn ein erneut Trauma ausgelöst wird, reagieren wir entweder über oder werden gleichgültig.
Dieser evolutionäre Anpassungsprozess kann uns zu Beginn das Leben retten, aber auf lange Sicht zahlen wir einen Preis dafür. Wenn wir diesen fragmentierten Teil nicht integrieren, erzuegt das Nebenwirkungen oder Symptome, die wir als Leiden bezeichnen. Diese Symptome lenken unsere Aufmerksamkeit immer wieder auf diese ungelöste Vergangenheit zurück. Mit anderen Worten: Wir haben einen Kredit bei unserer Zukunft aufgenommen, den wir letztendlich zurückzahlen müssen.
Wenn wir ein bewusstes und bezogenes Verständnis für diese Rückkopplungsschleifen verlieren, die das Netz des Lebens bilden, geht uns etwas Wesentliches abhanden. Wir können nur eine bestimmte Menge an Leben von unserer Zukunft leihen. Wenn wir das nicht rechtzeitig zurückgeben, erschaffen wir einen Schuldenberg, der über uns zusammenbrechen wird.
Das ist, glaube ich, die Situation, in der wir uns im Moment befinden. Wir als Menschheit nehmen weiterhin Anleihen von unserer eigenen Zukunft, und das Leben wird dadurch unhaltbar. Wir verbrauchen die Systeme der Erde, weil wir das Gefühl dafür verloren haben, wie sich der Planet anfühlt. Wir fühlen ihn buchstäblich nicht mehr. Und wir haben Technologien und Lebensstile entwickelt, die diese Abwärtsspirale noch verstärken.
Treibstoff für Trauma
Viele von uns betreiben ihr Leben mit „Trauma-Treibstoff“, was sich in einem Hyperstress äußert, der unser Handeln antreibt. Dieses Phänomen ist so trickreich, dass wir oft nicht in der Lage sind, es zu erkennen; es ist zur neuen Normalität geworden. Wenn wir uns nicht mehr bewusst sind, dass wir unter chronischem Stress leben, akzeptieren wir diesen Zustand als unsere neue Grundeinstellung. Die Regulationsprozesse, die wir für die Integration unserer gemachten Erfahrungen und für die Regeneration benötigen, können unseren Stress nicht mehr bewältigen. Dies führt zu einem vorzeitigen Verschleiß des Körpers, der als allostatische Last bezeichnet wird. Dieser Prozess findet in unserem Körper statt, da wir einen Lebensstil führen, der sich negativ auf unsere natürliche Umgebung auswirkt.
Es fehlt ein wesentlicher Punkt in der Diskussion um das Klima, vielleicht weil er so grundlegend einfach ist: der menschliche Körper ist ebenfalls Teil der natürlichen Umwelt. Die Umwelt, die unser Körper ist, ist nicht „da draußen“, als ein Objekt; sie ist das Zentrum unserer Verankerung innerhalb unserer eigenen Existenz. Wenn Milliarden von Menschen den „Trauma-Treibstoff“ ihres Körpers schneller verbrennen, als sie ihn wieder auffüllen können, verbrauchen wir unsere eigene Umwelt. Wir brauchen unseren Planeten auf.
Da wir weiterhin Anleihen bei der Zulunft nehmen, ist das Leben unnachhaltig geworden. Wir erschöpfen die Systeme der Erde, weil wir das Gefühl dafür verloren haben, wie sich der Planet anfühlt. Wir fühlen ihn buchstäblich nicht mehr.
Das Feld des Getrennt-Seins
Wenn ein Trauma in der Entwicklung eines Menschen auftritt, wird der normalerweise gesunde Prozess der Individuation mit einem Gefühl der Trennung durchsetzt. Dieses frühe Gefühl der Trennung rührt von der Entfremdung von Teilen unseres Selbst her, und von den damit verbundenen Emotionen, die wir nicht fühlen wollen und können. Dies führt zu einem Verlust der Verbindung mit uns selbst und mit unserer Umwelt. Wenn ich keinen Zugang zu Teilen von mir selbst habe, werde ich auch nicht alles fühlen, was im Radius des Lebens existiert.
Wenn ich mich entfremdet oder körperlos fühle, nehme ich mich wahr als jemand, der sich auf dem Planeten befindet, aber nicht der Planet selbst ist. Mein Körper spiegelt die Zusammensetzung der Erde wider: Sauerstoff, Mineralien und Metalle, aber auch Kohlenstoff. Dieses Gefühl der Trennung hat zu einem „Helikopter-Verstand“ geführt, der über der Natur schwebt und sie ausbeutet, während wir durch den Filter des Schmerzes schauen, den wir in der Vergangenheit erlebt haben. Es gibt viele Möglichkeiten, wie der Verstand dem Leben schaden kann, wenn wir uns getrennt fühlen.
Wenn wir untersuchen, woraus sich Wohlbefinden zusammensetzt, stellen wir fest, dass der Schlüssel dazu das Erreichen von Kohärenz zwischen drei Aspekten von uns selbst ist: und zwar die Kohärenz zwischen Körper, Emotionen und Geist. Als Teil des Planeten ist der Mensch der lebendige Ausdruck des evolutionären Tanzes von Milliarden von Jahren. Daraus ist das Leben geformt, das wir heute leben. Dieses Leben ist die Intelligenz des Planeten. Es ist ein Trugschluss, sich einen Planeten vorzustellen, der Menschen in sich birgt, als ob der Planet ein Objekt außerhalb unseres Bewusstseins wäre.
Dieser Dualismus zwischen Menschen und dem Planeten ist meiner Meinung nach die Ursache für einige unserer Naturkatastrophen auf der ganzen Welt. Das sechste Massenaussterben ist zum Teil durch die kollektive Trauma-Geschichte der Menschheit entstanden. Tausende von Jahren massiver Traumatisierung, die an nachfolgende Generationen weitergegeben werden, sind zu sich wiederholenden Mustern geworden. Wenn diese Muster neue Traumata hervorbringen, geht die Skala über das Persönliche hinaus und vervielfältigt sich in zahlreichen weiteren Phänomenen.
Kollektives Trauma
Kollektive Traumata begleiten die Menschheit schon seit Hunderttausenden von Jahren. Massive Wunden, die Teil unserer kollektiven Psyche bleiben, wie der Holocaust, Sklaverei, Rassismus, Kolonialismus, Diktaturen und andere Ereignisse, haben sich in Narben verwandelt, die das Gewebe des Lebens bilden und zu schlafenden, „kalten“ kollektiven Traumata der Menschheit werden. Nach diesen Grausamkeiten in großem Ausmaß und den damit verbundenen Tragödien werden weiterhin Generationen in dieses Narbengewebe hineingeboren. Dies erzeugt Symptome, die manchmal offenkundig, manchmal subtil sind. Viele dieser Symptome und Manifestationen des kollektiven Traumas werden unter dem Deckmantel des „so ist das Leben“ versteckt.
Ein Trauma ist eine Wunde, die sich weiter auswirkt, wenn sie nicht behandelt wird. Wenn wir uns nicht um die kalten, historischen kollektiven Trauma-Wunden kümmern, werden wir massive Nebenwirkungen erleben. Die aktuelle Welt zeigt uns sehr stark, wie sich die Symptome häufen.
Diese kalten kollektiven Traumata eitern zu neuen „heißen“ Traumen, wenn sie unbehandelt bleiben. Sie manifestieren sich als Kriege, Naturkatastrophen, ethnische Säuberungen und andere seismische Ereignisse auf der Weltbühne. Dies führt zu noch mehr Schichten von kollektiven Traumata, wenn wir nicht so schnell wie möglich Wege finden, diese Anhäufung zu integrieren. Wenn wir uns nicht darum kümmern, werden Klimakatastrophen und massive Umweltveränderungen zu immer häufigeren katastrophalen Ereignissen führen und Millionen von Menschen zu Klimaflüchtlingen machen.
Wir müssen die kalten kollektiven Traumata unserer Vergangenheit konfrontieren und integrieren, um eine wirksame Antwort zu erzeugen.
Unsere Hyperreaktivität, begrenzte Beziehungsfähigkeit, Gefühllosigkeit und Gleichgültigkeit schaffen einen fruchtbaren Boden für neue Konflikte, Polarisierung und Fragmentierung. Dies ist bereits in der Vergangenheit geschehen und wir sehen, dass sich dies heute wiederholt. Auf kollektiver Ebene ist das Trauma der Sand im Getriebe, der unsere globalen Gemeinschaften daran hindert, Veränderungsprozesse einzuleiten, die wir dringend brauchen. Die Mauern, auf die wir stoßen, sind nicht politischer, wirtschaftlicher oder sozialer Natur; es sind die unsichtbaren Schichten des Lebens, die die unintegrierte Vergangenheit festhalten.
Die Symptome eines Traumas sind nicht leicht zu erkennen. Sie können sich in dem Mangel an Antrieb oder in Gleichgültigkeit äußern, oder im anderen Extrem: in Hyperaktivität. Diese Symptome zeigen sich auch im Klimagespräch. Anstatt in diese Muster zu verfallen, können wir beginnen, sie als Manifestationen der Erstarrung der Vergangenheit zu erkennen. Die Angst vor Veränderung ist in Wirklichkeit die Angst davor, dass in unserer Psyche, in unserem Körper, in unseren Emotionen und in unseren Beziehungen massiver Schmerz entsteht.
Eine Heilungsreaktion initiieren
Um uns in Richtung Lösung und Wiederherstellung zu bewegen, brauchen wir qualifizierte Teams von Traumaexperten. Das mag kontrainduziert klingen, denn alle Zeichen sagen uns, dass wir nicht genug Zeit für solche Aktivitäten haben. Die weitverbreitete Überzeugung ist, dass wir uns beeilen müssen. Wir befänden uns in einem Wettlauf gegen die Zeit. Aber Trauma braucht Raum und Zeit und die richtige Herangehensweise, um das eingefrorene Potenzial in Kreativität und erneuerte Lebensenergie umzuwandeln.
Bei der genaueren Untersuchung unserer umweltbedingten Herausforderungen sind wir aufgerufen, zu erkennen, ob nur Gewohnheiten geändert werden müssen, oder ob tiefere Schichten von Trauma im Spiel sind. Je nachdem, mit welchem Hindernis wir konfrontiert sind, werden die Intervention und der Ansatz sehr unterschiedlich sein müssen. Um sozialen Wandel zu bewirken, brauchen wir diese Ebene der Unterscheidung. Um Gewohnheiten zu ändern, brauchen wir Energie, die eine Reaktion auslöst, sowie Bildungsinitiativen. Wenn wir jedoch auf ein Trauma stoßen, brauchen wir eine sichere und heilende Umgebung.
Da Trauma und Klima von Natur aus miteinander verwoben sind, muss die Bildung und die Wissensvermittlung zur Klimafrage traumainformiert sein. Je mehr Informationsfluss wir generieren können, desto größer wird unsere Anpassungsfähigkeit sein. „Rapid Prototyping“ (1), das oft im Rahmen innovativer Prozesse durchgeführt wird, ist nur möglich, wenn systemische Feedbackschleifen eingebaut werden. Um unsere Klimakrise zu lösen, müssen wir die integrale Rolle des „inneren Klimas“ unserer Körper und Nervensysteme untersuchen und berücksichtigen.
Wenn wir Menschen, als Teil des natürlichen Systems, aus unserer Biosphäre ein Ödland machen, dann sagt das viel über unsere innere Welt aus. Die Landschaft unseres inneren kollektiven Traumas wird externalisiert; das ist es, was wir aus unserer Welt weiterhin machen.
Als Menschheit stehen wir am Scheideweg: Entweder lösen wir unsere aktuellen Krisen, einschließlich der Klimafrage, durch Innovation, oder wir wiederholen die Vergangenheit. Damit wir die Fülle an innovativen Ideen und Ressourcen, die zur Lösung unserer dringenden Klima-Herausforderungen zur Verfügung stehen, auch tatsächlich nutzen können, müssen wir uns zuerst für die Erhaltung der Lebewesen einsetzen, die uns am nächsten sind: uns selbst.
Thomas Hübl (editiert von Lori Shridhare)
Dieser Artikel ist erschienen in „Climate Complexity Change“, Unpsychology Magazine, Ausgabe 7, Frühjahr 2021. Die Ausgabe hat 146 Seiten und enthält viele hervorragende Artikel zum Klimawandel, und auch künstlerische Arbeiten!
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(1) Ein Verfahren, bei dem es um die möglichst schnelle Herstellung eines Prototyps geht, Begriff aus der industriellen Fertigung