Von Thomas Hübl
In den letzten acht Jahren habe ich eng mit einem erfahrenen Arzt zusammengearbeitet, der in einer Notaufnahme tätig ist. Jeden Tag wird er Zeuge von akutem menschlichen Leid und Schmerz, immer wieder. Oft muss er innerhalb von Minuten oder sogar nur Sekunden Maßnahmen treffen, die über Leben und Tod entscheiden. Objektiv betrachtet ist sein Job unglaublich stressig. Dieser Stress überwältigt ihn jedoch nicht, weil er und seine Kollegen gelernt haben, ihre intensiven Erlebnisse zu verarbeiten und zu kanalisieren. Sie haben Stärke und Resilienz entwickelt.
Doch als COVID-19 in seinem Krankenhaus auftauchte, merkte er, dass sich diese Krise anders anfühlte. Er konnte nicht mehr verhindern, dass der Stress, der die Notaufnahme überflutete, an ihm zerrte. Nur einen Monat nach Beginn der Pandemie sagte er mir, dass er sehr erschöpft sei und sich ausgebrannter denn je fühlte.
Er ist nicht der einzige an sich starke Mensch, der mit der Pandemie zu kämpfen hat. In der Tat erkennen viele von uns in gewisser Weise, dass der Stress von COVID-19 einen besonderen Tribut zu fordern scheint – anders als die Belastung, die wir bei anderen Tragödien in unserem Leben empfunden haben.
Das liegt daran, dass COVID-19 ein kollektives Trauma ist, eine einzigartig destabilisierende Kraft. Diese Pandemie ist nicht nur in der Lage, selbst die robustesten Psychen und Unterstützungssysteme zu überfordern, sondern hat auch das Potenzial, Stress und Schmerz auf subtile Weise im Nervensystem der Gesellschaft für kommende Generationen zu verankern. So beängstigend und ausgeprägt diese Art von Stress auch erscheinen mag, so können wir ihm dennoch wirksam begegnen, ihn kanalisieren und verarbeiten – mit der richtigen Mischung aus Methoden, Unterstützung und Verständnis.
Von einem kollektiven Trauma spricht man, wenn ein plötzlicher Schock nicht nur das Leben einer einzelnen Person, sondern das Leben aller Mitglieder einer Gemeinschaft erschüttert. Dieser Schock wird nicht alle gleichermaßen treffen, da ein Trauma fast immer die Mitglieder der Gesellschaft, die am Rande stehen, am härtesten trifft. Wenn er jedoch so stark ist, dass ein beträchtlicher Teil einer Gruppe auf einmal zu kämpfen hat, und wenn er so zuschlägt, dass die Strukturen beschädigt werden oder zerbrechen, die die Menschen verbinden und durch die sie gegenseitige Unterstützung erfahren, dann wird die betroffene Gesellschaft schnell zersplittern. Jeder Einzelne ist mit seinem Schmerz zunehmend isoliert.
Selten passieren solche Erschütterungen von sozialen Systemen schnell, und verschwinden dann wieder. In der Regel schlagen sie immer wieder durch und vertiefen jedes Mal die Wunden, die durch den ersten Schock entstanden sind. Dauert dies über einen genügend langen Zeitraum an, können die Effekte dieser chronischen und allgegenwärtigen Traumata – wie eine Neigung zu Angst oder eine Tendenz psychisch abzustumpfen – in die Kultur einer Gemeinschaft oder sogar in ihren genetischen Code einfließen, und dann an künftige Generationen weitergegeben werden.
In verschiedenen spirituellen Traditionen ist dieses Phänomen seit langem bekannt. Mitte des 20. Jahrhunderts begannen westliche Experten für psychische Gesundheit das moderne, wissenschaftliche Konzept des kollektiven Traumas zu entwickeln. Sie wollten damit weit verbreitete Schmerzmuster beschreiben, die sie bei den Nachkommen von Gemeinschaften vorfanden, die einigen der größten Gräueltaten der Menschheit ausgesetzt waren – wie dem Völkermord an den amerikanischen Ureinwohnern, dem Holocaust, der Sklaverei in Amerika und seinen Auswirkungen bis heute.
Die COVID-Krise mag ganz anders gelagert sein als diese Vorkommnisse der Geschichte. Aber im Frühjahr letzten Jahres, als ganze Städte unter Shutdown gestellt wurden, um die Krankheit einzudämmen, diagnostizierten verschiedene Experten für psychische Gesundheit die ersten Symptome eines kollektiven Traumas. Viele von uns spürten eine Leere und große Hilflosigkeit, ausgelöst durch die Ungewissheit über die Risiken dieser unbekannten Krankheit, und die Unklarheit, wer oder was sicher ist oder nicht.
Zur gleichen Zeit wurden durch die Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Regierungen zur Kontaktbeschränkung Räume geschlossen und Bindungen zerrissen, auf die sich die meisten Menschen verlassen, um sich in der Welt sicher und verbunden zu fühlen, und um Stress und Schmerz zu verarbeiten.
Die Zahl der Todesfälle und die Geschichten von Krankheit und Isolation beherrschten nicht nur die Nachrichten, sondern auch die Kultur und die alltäglichen Gespräche auf der ganzen Welt. Im Laufe des letzten Jahres drehte sich unser gesamtes Lebensumfeld zunehmend um die COVID-19-Pandemie.
In den letzten Wochen haben Organisationen wie die „American Psychiatric Association“ damit begonnen, das Ausmaß der Auswirkungen dieses Jahres der ständigen und unausweichlichen Instabilität zu erfassen. Sie dokumentierten einen deutlichen Anstieg der psychischen Probleme in der ganzen Welt. Fast niemand hat jedoch Anleitungen dazu gegeben, wie wir als Individuen und Gemeinschaften mit diesen ausgeprägten Stress- und Angstmustern umgehen können.
Seit fast zwei Jahrzehnten arbeite ich mit Experten für psychische Gesundheit aus dem medizinischen Bereich und mit spirituellen Lehrern aus der ganzen Welt zusammen, um Instrumente und Techniken zu entwickeln, die Einzelpersonen und Gruppen helfen, kollektive Traumata, wie diese Pandemie, zu erkennen, zu verarbeiten und zu integrieren. Angesichts des Ausmaßes des Leids und des Stresses, mit dem wir, und alle um uns herum während dieser Pandemie konfrontiert sind, erscheint dieses Unterfangen oft wenig aussichtsreich. Aber die Bewältigung und Kanalisierung unseres Stresses und unserer Ängste beginnt mit einem ganz einfachen Schritt: Wir müssen uns gelegentlich eine Pause gönnen, um sicherzustellen, dass wir uns selbst noch spüren können.
Ein kollektives Trauma überlastet den Einzelnen und die Gemeinschaft mit ungepuffertem Stress. So wie ein Computer, der zu schnell zu viele Daten verarbeiten muss, ins Stocken gerät und schließlich abstürzt, werden unsere Nervensysteme allmählich taub, wenn sie überlastet sind, bis sie sich abschalten. Diese Taubheit schleicht sich oft so allmählich ein, dass wir sie gar nicht bemerken. Wenn wir uns ein paar Minuten Zeit nehmen, um uns ausschließlich auf unseren Körper und unsere Emotionen zu konzentrieren, haben wir die Chance zu erkennen, wie sich eine Krise auf uns auswirkt, und unser Körper hat die Möglichkeit, die Verarbeitung aller eingeströmten Informationen nachzuholen.
Diese Pause muss keine explizite Meditation sein. Es kann ein Spaziergang, ein Abendessen oder sogar eine alltägliche Tätigkeit, wie zum Beispiel Hausarbeit, sein – solange die Aktivität langsam und ruhig genug ist, um dir den Raum zu geben, über deine zentralen körperlichen Empfindungen und emotionalen Gefühle nachzusinnen, und dem Geist die Chance zu geben, sie zu verarbeiten. Wenn es dir jedoch schwerfällt, auf diese Weise mit dir selbst in Kontakt zu treten, weil du es nicht gewohnt bist, oder weil dein Verstand rast, dann können bestimmte Techniken dabei helfen, langsamer zu werden und sich zu konzentrieren. Wie zum Beispiel die Atmung zu regulieren, sich beim langsamen Ausatmen jeweils auf einen Körperteil zu konzentrieren und sich bewußt werden, wie lange man diese Konzentration mit jedem Atemzug aufrechterhalten kann.
Hat man ein kritisches Maß an Stress und Isolation erreicht, wird dieser Prozess der Selbstreflexion wahrscheinlich schmerzhaft sein. Wir merken es vielleicht nicht, aber um diesen Schmerz zu vermeiden, finden wir oft jede Ausrede, um in Bewegung zu bleiben, was den Stress, der sich in unserem Geist und Körper aufbaut, noch verschlimmert und das Risiko eines totalen Stillstands vergrößert. In normalen Zeiten bemerken die Menschen in unseren Beziehungsnetzwerken um uns herum vielleicht, dass wir ständig in Bewegung sind, und helfen uns, die Zeit und den Raum zu finden, die wir brauchen, um langsamer zu werden und unseren Stress zu verarbeiten.
Die Fragmentierung eines kollektiven Traumas beraubt uns oft dieses Unterstützungssystems. Deshalb ist es sehr sinnvoll, die Selbsterfahrung und die Selbstreflexion zu einer Praxis zu machen – eine Aufgabe, die wir am besten regelmäßig erfüllen. Und wir sollten uns eingestehen, dass es nicht nur uns selbst schadet, wenn wir uns dem eigenen Schmerz und dem Unbehagen nicht stellen. Wenn wir zulassen, dass wir in Gefühllosigkeit, Unbeteiligtsein und Rückzug verfallen, fällt ein weiteres Glied in unserem sozialen System aus, und der Schmerz überträgt sich auf andere. Hoffentlich reicht dieses Bewusstsein aus, um uns zu helfen, ein paar Minuten des Unbehagens zu überwinden.
Wer bemerkt, dass er angesichts der Krise bereits teilweise oder ganz abgestumpft ist, für den ist es dann an der Zeit, wieder Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen. Das kann einfach ein Anruf bei einem Freund oder einer Freundin sein. Ein ehrliches Gespräch mit einem anderen Menschen über unsere Gefühllosigkeit und darüber, wie es dazu gekommen ist, reicht oft aus, um uns wieder aufzurütteln. Wessen soziales Netz durch den Pandemie-Stress bereits zu sehr strapaziert wurde und wer nur noch wenige Möglichkeiten hat, kann sich jederzeit auch an einen Fachmann wenden, z. B. an einen Therapeuten.
Wenn du jedoch durch Selbstreflexion feststellst, dass du immer noch mit deinen Gefühlen verbunden bist, und wenn du glaubst, dass du die Kapazität und den Antrieb hast, anderen zu helfen, dann kannst du damit beginnen, die zerbrochenen Gemeinschaften um dich herum wieder aufzubauen. Dazu bedarf es keiner speziellen Organisation. Du mußt nur deine Netzwerke – die der Familie, der Freunde, der Nachbarn, der Kollegen – wissen lassen, dass du da bist und helfen kannst. Signalisiere ihnen, dass sie nicht so allein sind, wie die Pandemie sie vielleicht glauben macht.
Wenn du auf diese Weise aktiv wirst, versuche nicht, der alleinige Retter deiner Umgebung zu werden. Wer sich zu viel vornimmt, kann seine Selbstregulierung verlieren und in schädlichen Stress geraten. Nutze deine Praxis der Bewusstwerdung und der Selbstreflexion, um sicherzustellen, dass du immer auch den Raum für dich selbst freihälst. Und vertraue darauf, dass das, was du tun kannst, ausreicht. Denn wenn wir andere so weit unterstützen, dass sie in der Lage sind, ihre eigenen Gemeinschaften zu unterstützen, werden wir oft feststellen, dass unsere kleinen Bemühungen allmählich zu einem Prozess der gemeinschaftlichen Heilung führen.
Diese einzelnen Schritte sind nur ein Teil eines größeren Puzzles der Heilung. Über die Selbstregulierung und gegenseitige Unterstützung hinaus müssen unsere Führungskräfte und Institutionen uns Raum und Sicherheit geben, damit wir die Gesamtbelastung durch diese Pandemie gemeinsam erkennen, offen und ehrlich darüber sprechen und sie schließlich zu einem kollektiven Sinn verarbeiten können. Dies kann Rechtsvorschriften und Innovationen erfordern, um Ressourcen und Orte dafür zu schaffen. Es kann bedeuten, dass wir uns mit den nachhallenden Auswirkungen anderer, älterer kollektiver Traumata auseinandersetzen müssen, die bereits die für diese Art von Arbeit erforderlichen Bindungen geschwächt haben. Es wird sicherlich Zeit brauchen.
Aber die harte Arbeit, den einzigartigen Stress dieses kollektiven pandemischen Traumas zu konfrontieren, zu kanalisieren und zu verarbeiten, ist absolut notwendig. Sowohl um die langfristigen Auswirkungen dieses Stresses auf unsere Kultur zu begrenzen als auch um die Resilienz aufzubauen, die uns helfen wird, neue kollektive Traumata in der Zukunft zu bewältigen.