THOMAS HÜBL

Harvard Universitäts-Workshops mit Thomas Hübl

„Kollektives Trauma hat uns zu dem gemacht, was wir sind“

Workshop-Reihe des Harvard Longwood Campus lädt ein zur Auseinandersetzung mit Trauma, und zur Erforschung unserer Fähigkeit zur Entwicklung von Resilienz

Wir sind alle in kollektive Traumata hineingeboren. Unser Weg ist, diese nicht geheilten Wunden zu integrieren, die unsere Gefühle, unseren Geist und unseren Körper chronisch beeinträchtigen.

Diese Erkenntnis war eines der Ergebnisse einer kürzlich am Harvard Longwood Campus durchgeführten virtuellen Workshop-Reihe des „Harvard Longwood Office of Employee Development and Wellness“. Die Workshop befaßten sich mit dem Aufbau von Resilienz durch Selbstregulierung, Koregulierung und Gruppenkohärenz. Etwa 50 Teilnehmer, darunter Dozenten, Forscher, Ärzte, Kliniker und Mitarbeiter der Harvard Medical School und angeschlossener Krankenhäusern nahmen an der dreiteiligen Reihe im Mai und Anfang Juni 2020 teil.

Thomas Hübl, der einen internationalen Dialog zur Heilung kollektiver Traumata initiiert hat, mit dem Fokus auf die Geschichte der Beziehung zwischen Israelis und Deutschen, lud die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von seinem Home Office in Tel Aviv dazu ein, sich mit den Ursachen und Symptomen von Traumata in ihrem Leben auseinanderzusetzen.

Medical Staff Stress BlogDer erste Schritt, so Hübl, besteht darin, zu verstehen, wie sich jeder von uns im Umgang mit Stress selbst reguliert. „Wir sind an hohe chronische Stresswerte gewöhnt, die sich über Jahrzehnte angesammelt haben, und die wir nicht einmal mehr Stress nennen.“ Um diesen Stress auszuhalten, haben wir die Emotionen unterdrückt, die zu diesem Zustand geführt haben. Und um uns vor der Intensität der in uns gespeicherten Gefühle zu schützen, interpretieren wir unsere Emotionen mental, anstatt sie auszudrücken und zu spüren, wie sie sich auf unseren Geist und Körper auswirken, sagte Hübl.

Dieser ungelöste Stress kann ein Gefühl der Ganzheit in uns selbst blockieren. „Je mehr wir dieser unsichtbaren Fragmentierung in uns selbst in unserem täglichen Leben Aufmerksamkeit schenken, desto mehr können wir diese Muster erkennen und auflösen, bevor sie chronisch werden.“ Hübl leitete eine Meditation an zur Erkennung von Emotionen und Empfindungsblockaden im Körper. Zeuge dessen zu werden und bewußt wahrzunehmen, wie Fragmentierung in einem selbst erscheint, sei der erste wichtige Schritt, wenn man große gesellschaftliche Probleme und Unruhen verstehen will, und zu deren Lösung beitragen will.

Eingebundensein in Kollektives Trauma

„Jeder von uns ist in eine Welt hineingeboren worden, die über Tausende von Jahren Traumata erlitten hat. Das kollektive Trauma hat uns zu dem gemacht, was wir sind. Die Frage ist: Wo lebt dieses Trauma heute in mir selbst?“ fragte er die Teilnehmerinnen und Teilnehmer.

Um solchen Fragen nachzugehen, gründete Thomas Hübl 2016 eine gemeinnützige Organisation namens Pocket Project.

Thomas Hübl Harvard

Dr. Bala Subramaniam, Thomas Hübl

Im vergangenen Dezember sprach er im Talk@12 der Harvard Medical School mit Dr. Bala Subramaniam, außerordentlicher Professor für Medizin am Beth Israel Deaconess Medical Center, über seinen Ansatz zur Untersuchung systemischer kollektiver Traumata in unseren Gesellschaften und Gesundheitssystemen.

Sein Buch „Healing Collective Trauma: A Process for Integrating our Intergenerational and Cultural Wounds“ wird im November 2020 veröffentlicht.

„Als Ärzte haben wir nicht die Struktur und den Raum, um uns mit Trauma auseinanderzusetzen“, sagte Workshop-Teilnehmerin Kristen Schaefer, Ärztin für Palliativmedizin am Dana-Farber Cancer Institute und Assistenzprofessorin für Medizin an der Harvard Medical School.  Ihrer Meinung nach ist ein Lernprozess zum Thema Trauma angesagt und überfällig.

„Zu behaupten, dass man kein Trauma habe, ist Angeberei. Psychiater und Sozialarbeiter haben Praktiken und Fachwissen zur Hand, um sich darin zurechtzufinden. Man steht aber sehr einsam da, wenn man in einem anderen Fachgebiet, das nicht über diese reiche Landschaft verfügt, mit Trauma arbeiten will“. Schaefer hat schon Patienten behandelt, die ein kollektives Trauma erlebt haben, darunter salvadorianische Frauen und Bewohner des Navajo-Reservats. Sie war ein Verfechter der palliativmedizinischen Ausbildung, und lehrt derzeit einen Längsschnitt-Entwicklungskurs für Medizinstudenten im ersten Jahr. Der Kurs vermittelt den Studierenden Fähigkeiten, eine reflektierende Praxis zu kultivieren, die ihre streng fachlich orientierte klinische Ausbildung begleitet.

Wie viele Ärzte war Schaefer in der Zeit der Pandemie mit der Herausforderung konfrontiert, mit den Ängsten und gestiegenen Nöten ihrer Patienten umgehen zu müssen, und gleichzeitig ihren eigenen Stress und den ihrer Familie zu bewältigen. „Während ich mich während der COVID-19-Krise um meine Patienten und Studenten gekümmert habe, entdeckte ich diese Art von Trauma auch bei mir selbst, bei den Studenten, in meiner Familie und bei Freunden. Ich habe darüber nachgedacht, wer ich als Lehrer, Kollege und Arzt in diesem Rahmen des Traumaverständnisses sein kann.“

Hübls Lehransatz, sagte sie, sei reif und enthalte „Wärme und Sanftheit, die man in einem Workshop nicht oft erlebt“, und fügte hinzu, dass dies vielleicht ein Modell sei, dem Harvard nacheifern könnte, wenn es die Auseinandersetzung mit Trauma in seine medizinischen Lehrpläne, die Patientenversorgung und die Arbeitsbereiche einführt. „Man muss das Wahrnehmen von Trauma wirklich üben, und nicht unbewußt darauf reagieren. Es gilt zu versuchen, die Erfahrung der Menschen damit einzubeziehen. Zu sehen, wie andere aufstehen und eine Art tiefe Zerbrochenheit benennen, und dann einen Weg anzubieten, um sich dem kollektiv zu nähern, fühlt sich als wesentlich für die Heilung an.“

Gruppenkohärenz schaffen

Selbstregulierung, so Hübl, sei möglich, indem man seine Emotionen, Gedanken und sein somatisches Bewusstsein in Einklang bringt. Unterstützt und ergänzt wird dieser Prozess durch die Koregulierung, d.h. den Prozess, eine Resonanz mit dem Nervensystem des anderen zuzulassen. „Was uns die Pandemie gelehrt hat, ist, dass wir alle voneinander abhängig sind. Der Zustand eines reifen Menschen ist die Erkenntnis unserer Interdependenz.“

Am Arbeitsplatz gibt es reichlich Gelegenheit, dies zu praktizieren. Oft stehen wir vor der Wahl, entweder emotionale Distanz zu schaffen, wenn wir den Stress der Menschen nicht spüren wollen; oder wir können sie durch Zuhören (neben anderen Fähigkeiten) in die Möglichkeit einer emotionalen Resonanz einladen, wodurch sich dann unsere wahren Fähigkeiten als Führungskraft entfalten können.

„Ich glaube, der letztgenannte Ansatz baut ein viel höheres Maß an Vertrauen auf. Aber er ist eine größere Herausforderung, weil es bedeutet, bereit zu sein, den Stress der Menschen in meiner Umgebung authentisch zu spüren. Wenn wir dies in unseren Teams praktizieren, stärken wir unsere Beziehungskompetenzen und die Fähigkeit, uns in Stress- und Krisenzeiten gegenseitig zu unterstützen. Wenn größere Netzwerke von Menschen zusammenkommen, um diese Beziehungskompetenzen zu üben, können sich Gruppen gut entwickeln und Probleme gemeinsam lösen. Dadurch entsteht das, was Hübl als Gruppenkohärenz bezeichnet“.

Neben dem Vortrag vom Dezember über kollektive Traumata gibt es weitere Initiativen, die sich auf diesen Forschungsbereich konzentrieren. Am Harvard College wurde 2016 / 2017 von der Soziologin und Dozentin Shai Dromi, die auch am Workshop teilnahm, ein Kurs über die politischen Implikationen kollektiver Traumata angeboten. Und seit 40 Jahren bietet das Harvard-Programm für Flüchtlingstrauma am Massachusetts General Hospital Dienstleistungen für Flüchtlinge an und betreibt Forschung dazu.

Der Direktor des Programms, der Psychiater Richard Mollica, sagte nach der Teilnahme an den Workshops, Thomas Hübl verkörpere für ihn einen „modernen Martin Buber„. Buber, der Philosoph des zwanzigsten Jahrhunderts, war eines von Mollicas Vorbildern, als er die Yale Divinity School besuchte, während er seine Facharztausbildung in Psychiatrie an der Yale Medical School abschloss.

„Thomas ist ein charismatischer Visionär, der uns allen viel zu bieten hat“, so Mollica, „seine phänomenologische Analyse der zwischenmenschlichen Erfahrung hat mich überzeugt. Sicherlich sagt der Patient immer: ‚Ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß‘. Die Patienten in meiner Klinik sind immer auf die empathische Qualität der Beziehungserfahrung eingestimmt. Ich wünschte, die Ärzte wären genauso einfühlsam.“

Harvard Trauma Workshop ArticleLese den Original-Artikel auf Englisch auf der Harvard Website hier.

 

 

 

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