Der amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell beschrieb zwei Taten, die ein Held oder eine Heldin auf ihrer archetypischen Reise zu vollbringen haben. Bei der ersten geht es um etwas Materielles, um irgendeine handfeste äußere Aufgabe, die sehr schwierig, ja unmöglich erscheinen kann und die man nur mit viel Mut bewältigt. Die zweite Tat ist weniger klar, da sie spiritueller Natur ist. Sie schickt den Helden auf eine Reise, in deren Verlauf er verborgenes mystisches Wissen über die menschliche Existenz aufspürt und in vielen Fällen mit einer höheren Botschaft oder mit einem Leben spendenden Elixier zurückkehrt.
Dabei fand Campbell heraus, dass alle Heldenreisen, von den ältesten Mythen bis zum modernen Filmdrehbuch, ein annähernd gleiches Verlaufsmuster haben. Wir sind immer Held oder Heldin unserer eigenen Geschichte, ob wir es mit Drachen oder Dämonen, mit Sirenen oder Heiligen zu tun bekommen, ob wir an magisch vorgegaukelten Orten Himmelsmusik hören oder einfach den alltäglichen Prüfungen und Versuchungen des ‚gewöhnlichen‘ Lebens ausgesetzt sind.
Jede Heldenreise läuft letztlich auf eine Verwandlung hinaus. Den Toren ist es bestimmt, am Ende weise zu sein. Die Geschichte des Zynikers endet damit, dass seine starre Haltung aufgebrochen wird und er sich ungeschützt und damit authentisch zeigt. Der Verzweifelte findet am Ende Hoffnung, Vertrauen und Erneuerung. Der Furchtsame oder Schwache wächst im Laufe seiner Geschichte in den Adel seiner wahren Stärke hinein.
Das sind Grundformen der geistigen Reise, sie beschreiben den Bogen des Seelen-Narrativs. Wenn wir uns auf den Weg machen, folgen wir damit unserem Ruf, dem Weckruf, der eigentlich immer ergeht, der aber nur gehört wird, wenn das Herz von großem Verlangen
erfüllt ist.
Heute ergeht ein neuer Ruf, eine ganz entschiedene Aufforderung, die einer tiefen kollektiven Sehnsucht entspringt. Wir sind zu einer gemeinsamen Heldenreise aufgerufen, bei der wir im praktischen wie im spirituellen Sinne aktiv werden müssen. Wir sind gerufen, uns auf die gemeinsame Reise der kollektiven Heilung zu begeben.
Diesem Ruf zu folgen heißt, daß wir damit beginnen müssen, die Kluft zwischen der Welt der Wissenschaft und der Welt des Spirits zu überwinden. So kann sich eine heilige Ehe zwischen lebenswichtigen, aber bisher im Widerspruch zueinander stehenden Bereichen vollziehen. Dadurch entsteht Einheit anstelle von Trennung, Integration anstelle von Fragmentierung. Wie bei allen großen heroischen Reisen hängt die Qualität unseres weiteren Überlebens auf diesem Planeten davon ab, wie wir diesem Ruf folgen.“ Thomas Hübl
Auszug aus: Kollektives Trauma Heilen. Persönliche und globale Krisen verstehen und als Chance nutzen, Thomas Hübl, erscheint am 29. März 2021 im Irisiana-Verlag