Folgendes ist ein übersetzter Auszug aus dem neuen Buch von Thomas Hübl: Healing Collective Trauma: A Process for Integrating Our Intergenerational & Cultural Wounds, Kapitel 6 A Group Process for Integration
„Der Mensch begann in einem unbewussten Zustand und hat immer nach mehr Bewusstsein gestrebt. Die Entwicklung des Bewusstseins ist die Last, das Leiden und der Segen der Menschheit.“ – C. G. Jung, The Quotable Jung
“Vergeude dein Leiden nicht.” – Eduardo Duran, “Native, Indigenous Cultures and Healing Trauma” (podcast)
Wenn wir uns das Nervensystem vorstellen, denken die meisten von uns vielleicht an bunte Grafiken aus Anatomie-Lehrbüchern oder an die animierten Landschaften von wissenschaftlichen Dokumentarfilmen (oder an pharmazeutische Werbespots, für diejenigen, die in den Vereinigten Staaten und Neuseeland leben). Vielleicht stellen wir uns das Nervensystem ähnlich vor wie das Gefäßnetz – fast unendlich verzweigt, pulsierend mit roten, blassblauen und weißlichen Fasern. Und, wenn wir jung genug sind, können unsere unmittelbaren mentalen Vorstellungen beeinflußt sein von zeitgenössischer spiritueller Kunst, also mehr Alex Grey [1] als Gray’s Anatomy [2].
Aber wenn ich über das Nervensystem spreche, möchte ich deine Aufmerksamkeit auf James Camerons Science-Fiction-Blockbuster Avatar aus dem Jahr 2009 lenken. In der von Cameron geschaffenen Welt sind Menschen aus der Zukunft in einen bewohnten Mond im Alpha Centauri Sternensystem eingedrungen, mit dem Plan, die Eingeborenen zu vertreiben, notfalls mit Gewalt, und den Mond seiner Ressourcen zu berauben. Der Mond ist eine Biosphäre, die als Pandora bekannt ist, und es ist die Heimatwelt der Na’vi, einer intelligenten und friedlichen Rasse.
Auf Pandora ist das Volk der Na’vi mit den Seelen all ihrer Vorfahren und mit der grenzenlosen Flora und Fauna durch ein riesiges biolumineszentes Nervennetz eng verbunden. Dieses lebende kollektive Nervensystem wird im Film visuell als leuchtende Lichtfäden dargestellt. Es leuchtet in jedem Moos und jeder Flechte, in jedem Blatt und Stängel und Samen. Seine Ranken und Fasern verlaufen leuchtend durch die Wurzeln der Bäume und tauchen aus den Kronen der Köpfe wieder auf, und kulminieren in den Spitzen der langen Zöpfe, die die Pandoraner tragen. Wenn die Na’vi sich miteinander oder mit ihren Tieren verbinden, können sie den anderen von innen heraus spüren. Sie brauchen keine Sprache oder Gesten mehr, um mit demjenigen zu kommunizieren, mit dem sie verbunden sind. Wenn eine solche Verbindung hergestellt wurde, ist es üblich, dass eine Na’vi-Person sagt: „Ich sehe dich.“
Durch das gleiche neuronale Netz können sie sich mit ihren Vorfahren verbinden. Sie können die Zeit überbrücken.
Unser eigenes Nervensystem ist dem der fiktiven Na’vi nicht unähnlich. Aus einer reinen 3D-Perspektive mögen wir es als ein physisches System aus Fleisch und Blut betrachten, aber wir sind nicht nur aus dieser Dimension. Alles ist Energie, und selbst im materiellen Bereich ist der grobstoffliche Körper nicht einfach mechanisch; er funktioniert durch Elektrizität. Das komplizierte Nervengeflecht des menschlichen Nervensystems ist eine körperliche Erweiterung der feinstofflichen Körpermatrix; seine fraktalen Netzstrukturen – selbstähnlich und rekursiv – sind eine komplexe natürliche Struktur für den Fluss des Lichts.
Je präsenter, klarer und eingestimmter wir sind, desto mehr ähneln unsere Fähigkeiten zur bewussten Verbindung denen der Na’vis.
Wir sehen uns als separate Entitäten – individuell und isoliert, eingebunden in unsere persönlichen Geschichten. Es gibt Vorhersagen über Transhumanismus, dass wir bald in der Lage sein werden, eine Kapsel mit Nanorobotern zu schlucken, die Krankheiten bekämpfen können; ein synthetisches neuronales Netz zu implantieren, das uns radikal schlauer macht; oder unseren Verstand, unsere Erinnerungen und unsere Persönlichkeit – alles, wofür wir uns halten – auf eine externe Festplatte oder eine übertragbare Smartcard hochzuladen, was uns erlauben würde, ewig zu leben, oder zumindest über die Grenzen des Körpers hinaus.
Doch in jedem von uns existiert bereits ein ausgereifter Biocomputer, entwickelt und verfeinert über Hunderttausende von Jahren. Das menschliche Nervensystem ist zutiefst lebendig, voneinander abhängig und miteinander verbunden. Einmal aktiviert, hat sogar unser DNS-Code das Potenzial, sich zu verbessern (denke an die Auswirkungen des Trauma-Clearings auf die Epigenetik). Wenn wir die Eleganz dessen erkennen, was wir sind, verstehen wir, dass wir nie wirklich voneinander getrennt waren. Wir lernen, uns zu vernetzen und unsere Verbindung zueinander und zur Welt zu stärken. Aktiviert und verbunden, entdecken wir vielleicht, dass wir schon immer den Samen für bewusste Heilung und hohe Intelligenz in uns trugen, und ebenso viele Fähigkeiten, um eine Brücke über den physischen Körper hinaus zu schlagen oder ihn in transzendierten Formen zu integrieren und zu nutzen.
Aber wie die Mysterienschulen unserer Welt schon so lange lehren, müssen wir nicht passiv auf eine Zukunft warten, die sich hoffentlich entfalten wird. Diese Fähigkeiten sind in uns selbst schon heute vorhanden. Es ist unsere Aufgabe, dies aufzudecken und zu entwickeln. Es ist bereits jetzt so, dass wir in dem Raum, der in der Fülle bewusster Präsenz und Korrelation entsteht, in der Zeit reisen können.
Ein aktiviertes subtiles Nervensystem ermöglicht es uns, nicht nur in einen vergangenen Schmerzmoment eines anderen hineinzuspüren, sondern auch damit in Kontakt zu gehen und mitfühlend Zeugnis ablegen zu können. Wir können uns bewusst mit der lebendigen Gegenwart unserer Vorfahren verbinden und mit ihnen in einer Erfahrung des Leidens stehen. Wir können mithilfe unseres nationalen Gedächtnisses Zeuge einer Verwundung aus früherer Zeit sein. Und wir können die Navigation unseres Nervensystems auf das eines Freundes, eines geliebten Menschen oder eines Klienten einstellen, um uns mit einem frühen Punkt des Traumas in ihm und in uns zu verbinden, um es mit Präsenz, Bezeugung und in heilender Inention zu halten. Wir können im Wir-Raum mit gleichgesinnten Heilern, Therapeuten, bewussten Bürgern und Change Agents zusammenkommen, um Falten in der Raumzeit zu öffnen und das Gebet eines Bodhisattvas zu sprechen.
Erfahre mehr über das Buch von Thomas: Healing Collective Trauma: A Process for Integrating Our Intergenerational & Cultural Wounds. Es ist im November 2020 auf Englisch erschienen. Ende März 2021 erscheint es auf Deutsch, im Mai 2021 auf Niederländisch.
[1] Alex Grey ist ein US-amerikanischer Künstler. Bekannt geworden ist er durch seine 1986 veröffentlichten Sacred Mirrors, eine Serie von 21 lebensgroßen Menschendarstellungen, die mit anatomischer Genauigkeit menschliche Körper auf verschiedenen Ebenen darstellen.
[2] Henry Gray’s Anatomy of the Human Body, meist nur Gray’s Anatomy genannt, ist ein Buch über die menschliche Anatomie. Vor allem im englischsprachigen Raum wird es als ein Klassiker des Faches angesehen. Die erste Auflage erschien im Jahr 1858 in Großbritannien und ein Jahr später in den USA unter dem Namen Gray’s Anatomy: Descriptive and Surgical.